Philosophie und Spiritualität des Gehens und Bergsteigens | Geistlicher Impuls | 10.07.2024

Philosophie und Spiritualität des Gehens und Bergsteigens | Geistlicher Impuls | 10.07.2024

Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?
(Psalm 121, 1)

Gehen und Bergsteigen sind nicht bloß Sport oder Freizeitvergnügen, bei dem man seinen Spaß haben kann. Wer sie so „betreibt“, hat wenig erfahren von der Tiefe und Bandbreite eines Geschehens, das von der Freude an der Bewegung über die unschuldigste Augenlust bis in den Himmel, die spirituell-mystische Dimension, reicht. Am Berg, beim Gehen und Steigen, ist man der Erde gründlicher vereignet, am Berg ist man aber auch dem Himmel näher als im Tal. Und man kehrt vom Berg zurück in den Alltag als ein Erfahrener, als ein Geläuterter, als ein reich Beschenkter.

Wollen wir im Folgenden Gehen und Bergsteigen nicht bloß als selbstherrlich-technisches Machen des Menschen, sondern als Geschehen und Leben in der Welt verstehen.

I. Gehen, die Horizontale

Gehen ist Voraussetzung und Grundlegung des Bergsteigens. Steigen ist immer auch Gehen, Gehen ist aber noch kein Steigen. Beim Steigen kommt die Höhe oder Tiefe (das Lateinische hat für hoch und tief nur ein Wort, nämlich altus) ins Spiel, während sie beim Gehen keine Rolle, zumindest keine essentielle Rolle spielt. Gehen ist ein horizontaler Elementarvorgang.

Der Mensch geht auch im Alltag, aber hier ist das Gehen in der Regel ein Mittel zum Zweck des Besorgens von etwas. Das Gehen ohne Zweck, das „bloße“ oder auch „reine“ Gehen, auch „Spazierengehen“ genannt, erfolgt um seiner selbst willen. Der Mensch nimmt sich eine Aus-Zeit vom Besorgen, vom Alltag: Er geht aus bloßer Lust am Gehen. Griechisch gedacht und gesprochen: Reines Gehen ist ein entelechialer, kein teleologischer Vorgang, es hat seinen Zweck (telos) in (en) sich.

Gehen, reines Gehen, ist ein Findungs-Vorgang: ein Von-sich-Weggehen, ein Neben-sich-Gehen, ein Über-sich-Hinausgehen, das ein Auf-sich-Zugehen und ein Zu-sich-Kommen ist. Und oft, im besten Fall, findet man, was man gar nicht gesucht, gar nicht erwartet hat: Man erhält ein Geschenk. Man findet sich, man findet Welt.

1. Von sich weggehen: Alltag und Frei-Tag

Endlich kann man tun, was man eigentlich will, endlich kann man weg-gehen: den Alltag der Mittel-Zweck-Relation und des Besorgens verlassen, um sich allein dem reinen, Freude bereitenden Gehen zu widmen. In diesem freien und befreiten Gehen entflieht man aber nicht nur seinen Alltagsgeschäften, sondern man geht auch weg von sich, seinem alltäglichen Ich. Gehen, in Form einer längeren Wanderung oder gar einer Tages- oder Mehrtagestour, macht frei, vollzieht sich an einem von Geschäften freien Tag; in diesem Sinne ist dieser Tag ein Frei-Tag. Man lässt in gewissem Sinne seine Sorgen zurück, man verdrängt sie nicht, aber man distanziert sich – oder kann es zumindest und sollte es auch. Denn oft ist es der fehlende Abstand zu diesen Sorgen, der einen hindert, sie recht zu bedenken und zu lösen. „Ich bin mir selbst zu nah“, heißt es beim Philosophen und Wanderer Nietzsche – und genau diese Nähe, dieses Sich-zu-nahe-Sein, sucht man durch das reine Gehen zu verlassen. Man sucht sich, indem man von sich weggeht.

2. Neben sich gehen: Re-Flexion

Verlässt man den Alltag und gewinnt Distanz, so setzt der Verfremdungseffekt ein. Man geht dann in diesem Sinne neben sich, neben seinem alltäglichen Ich. Man hat die Zeit, sich selbst zu beobachten, sich selbst zu bedenken. Das ist möglich, weil man beim Gehen nicht gänzlich auf den Weg konzentriert ist, nicht in der Weise achtgeben muss wie etwa beim Klettern im höheren Schwierigkeitsgrad. Das Denken, biologisch gesprochen: das Gehirn, ist auf wohlige Weise unterfordert, jedenfalls nicht zielgerichtet agierend, man hat Zeit und Möglichkeit, seine Gedanken schweifen zu lassen. Und da kommt einem manches in den Sinn – solches vor allem, was einem beim alltäglichen Sitzen und gehenden Besorgen nicht eingefallen ist. Man geht also nicht „neben der Spur“, dem Weg, sondern „neben sich“, seinem gewöhnlich-alltäglichen Ich. Man schaut von einer höheren Ebene auf sich, bedenkt dies und das – oft in freier Assoziation, eine Technik, die ja auch in Psychoanalyse oder Psychotherapie Anwendung findet. Es ist eine Re-Flexion im ursprünglichen Sinne: Das alte Ich verjüngt sich im zurückgeworfenen Licht.

3. Über sich hinausgehen: Mehr werden, als man ist

Das Gehen ist im gelingenden, also nicht immer gewährten Fall auch ein Über-sich-Hinaus- gehen – und das in mehrfacherBedeutung. Dann gehe nicht „ich“, sondern „es“ geht. Man bezeichnet solche „Zustände“ auch als „Flow“ oder als ein „Im-Flow-Sein“. „Im Flow“ ist man, wenn „es läuft“, wenn man den sogenannten toten Punkt überwunden hat, wenn man sich nicht quälen, sich zum Gehen nicht antreiben oder gar zwingen muss.

Dieses Phänomen eines „Flow“ beim Gehen wäre aber dann zu kurz gedacht, wenn es nur körperliche Phänomene bezeichnete. Denn das „Über-sich-Hinausgehen“ kann sich auch auf Gedanken und Gefühle beziehen. „Es geht“ heißt dann auch: Ich denke und empfinde, was ich im Alltag nicht denke und empfinde. Man geht auch in der Erkenntnis und in der Neueröffnung von Perspektiven über sich hinaus und ist offen für Anderes, Neues.

Über sich hinausgehen meint dann also in diesem Zusammenhang: auf Gedanken und Empfindungen kommen – oder besser: Gedanken und Gefühle sind auf mich zu und über mich gekommen, weil sie nicht blockiert worden sind. Sie sind im Fluss. Diesen Gedanken- und Empfindungsfluss kann man nicht machen, nicht bewirken. Er trifft einen, wenn man in einer günstigen Situation ist. Und das ist eben sehr häufig beim Gehen der Fall. Voraussetzung hierfür ist aber das oben genannte Weggehen aus dem Alltag, ist der Frei-Tag, ist die sich daraus ergebende Re-Flexion.

4. Zu sich kommen: Im Gehen bei sich sein

Im Gehen um seiner selbst willen und mit den neu auf einen zukommenden Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen kommt man dann im nachdrücklichen Sinne auf sich zu und zu sich, man kommt zu sich nach Hause, wohnt bei sich. Oder besser: Nicht „man“ kommt zu sich, sondern ich bin es, der zu sich kommt. „Man“ ging im Alltag zum Bäcker oder zum Bankautomaten, aber ich bin es, der geht um des Gehens willen und der in diesem Gehen nun zu sich kommt. Im reinen Gehen bin ich bei mir zuhause. Ich fühle mich gut und frei.

Reines, gelingendes Gehen ist eine Auszeit: die Freiheit vom Besorgen, die Freiheit von der Zweckerfüllung. Das macht frei für das Nicht-Alltägliche, das Unzweckmäßige, Unerwartete. Am Frei-Tag bin ich bei mir zuhause, habe ich die pure Freude am Gehen, am Dasein, am gehenden Dasein.

II. Steigen und Klettern; die Vertikale

Gehen ist nicht immer ein Steigen, aber Steigen ist immer auch Gehen, wenn auch ein spezifisches mit den unterschiedlichsten Abstufungen. Mit dem Steigen kommt die Vertikale im essentiellen Sinne ins Spiel; sie war beim Gehen, falls überhaupt vorhanden, nur akzidentell.

Ein Steig ist ein steiler und schmaler „Weg“, ein Gebirgspfad, der in die Höhe oder Tiefe führt. Beim Felsklettern wird auch noch der Steig verlassen, der Steig wird zur Kletter-Route. Das Klettern unterscheidet sich vom Gehen und Steigen durch den essentiellen Einsatz der Hände. Alle vier Extremitäten sind in Tätigkeit. Das verleiht dem Menschen bei entsprechendem Können fast schon „unmögliche Möglichkeiten“. Er kann Routen im steilsten Gelände gehen wie kein anderes Säugetier. Der Mensch ist das Tier, das denken und zwei Hände gebrauchen kann.

Für nicht wenige Bergsteiger, so auch den Autor dieser Zeilen, sind Hochtouren die Königstouren. Als Hochtouren bezeichnet man Unternehmen, die auf vergletscherte Berge, meist 4000er im Alpenraum, führen, sehr oft auch in einer Kombination mit Felsklettereien in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden. Als Hochtourengeher taucht man ein in den „ewigen“ Winter und in die Welt des „ewigen“ Eises.

1. Respice finem! Die ganze Tour und der einzelne Schritt

Anders als beim Gehen, das ohne Probleme auch spontan und ohne eigentliches Ziel erfolgen kann, sollte man beim Steigen sein Ziel bestimmen und während der Tour gewärtigen, also fortwährend „im Kopf behalten“. Das Ziel ist der höchste Punkt des Steigens, in der Regel ein Berggipfel. Doch dieses Ziel ist noch nicht das Ende der Tour, denn diese führt dann ja wieder zum Ausgangspunkt, also auf die Hütte oder letztlich ins Tal, zurück. Diese, sagen wir: zwei Ziele muss man bei jedem Schritt berücksichtigen, wenn man seine Tour gut durchführen und vor allem abschließen will. Respice finem – Habe immer das Ende im Blick! Diese Lebensweisheit der Lateiner, die für einzelne Vorhaben so bedeutsam ist wie für das menschliche Leben als Ganzes, gilt im nachdrücklichen Sinne auch für das Bergsteigen. Der Bergsteiger muss das Verhältnis von Teil und Ganzem, von Anfang und Ende, von Gegenwart und Ziel nicht nur bedenken – er muss es für eine gelingende Tour zufriedenstellend praktizieren. Und diese Praxis ist auch eine Übung für andere Bereiche des Lebens, ja für das Leben als Ganzes.

Im Grunde geht es beim Bergsteigen wie im Leben insgesamt um ein hermeneutisches Grundprinzip: Das Ganze ist nur durch das Detail und das Detail nur durch das Ganze adäquat zu verstehen und zu praktizieren. Im Höchsten das Unterste, im Untersten das Höchste, im Kleinen das Große-Ganze im Sinn zu behalten – das ist die Aufgabe. Je nachdrücklicher man dies beachtet, desto besser, leichter und freudiger wird man steigen und – leben.

2. Aufstieg und Über-Steigung; Steigen zum Höchsten

Es ist faszinierend, manchmal auch überraschend, welch herausragende Rolle in der Kulturgeschichte der Berg spielt. Der Berg gilt als ein Ort der Abgeschiedenheit und Nicht-Alltäglichkeit, als Ort der Stille, der Seelen-Reinigung, des Überblicks und des Zu- sich-Kommens – aber nicht im Sinne narzisstischer Selbstbespiegelung, sondern im Sinne der Ausrichtung auf etwas anderes, als man selbst ist, der Ausrichtung auf „das Andere“ oder „den Anderen“, auf etwas Hohes jedenfalls oder gar den Höchsten. Moses, der Gründer und nachdrückliche Vertreter des das Abendland bestimmenden Monotheismus, empfängt seine Gesetzestafeln auf dem Berg Sinai, und Nietzsche, der radikale Destruierer monotheistischer Gotteslehre, lässt seinen Zarathustra zehn Jahre in der Bergeinsamkeit verbringen, bevor dieser seine Lehren dem Volk der Ebene nahezubringen sucht.

Obgleich wir, wie man hört, im säkularen Zeitalter leben, so kommt doch auch heute das Leben als solches wie auch das Bergsteigen im Besonderen nicht ohne die spirituelle Dimension aus. Wer steigt, steigt zunächst nach oben, er entfernt sich – das ist das Wenigste – vom „Unten“: von Tal und Alltag, von der Routine, vom Durchschnittlichen und Gewöhnlichen, dann zumal, wenn man alleine geht; wenn man also mehr hört als redet. Hören worauf? Ja, das ist die Frage, die man nicht zu schnell und vor allem nicht zwanghaft beantworten sollte: hören auf das Innere, hören auf die Natur, deren Töne und Geräusche, die von einer spezifischen Aura und Atmosphäre umgeben sind, hören auf das Absolute, den Absoluten, auf Gott. Reinhold Messner, der heute wohl reflektierteste Profibergsteiger, spricht in dieser Hinsicht gelegentlich von einer göttlichen Dimension, die ihn am Berg fasziniere. Wie Goethe und Spinoza sei er „im weitesten Sinne“ ein Pantheist.

Ein Bergsteigen, das nicht offen ist für diese „andere“ Dimension – ganz gleich, wie man sie konkretisiert und ob man sie überhaupt konkretisiert –, ist nicht vollständig: Ihm fehlt ein wesentliches, ein konstitutives Element. Es degeneriert zum Turnen an der Wand und zum bloßen Spaß-haben-Wollen. Rilke kreiert in den Sonetten an Orpheus den interessanten Begriff „reine Übersteigung“ (Erster Teil, 1. Sonett). Solch eine Übersteigung ist auch das Bergsteigen.

3. Abstieg und Ankunft: bewahrend das Höchste, integrierend den Frei-Tag; Dankbarkeit

Die Gefühle, die einen beim Abstieg überkommen, sind großartig, die Gedanken, die einem zuströmen, außerordentlich. Es ist eine große Freude, den Gipfel erreicht und „die Welt“, zu der man selbst gehört, von oben gesehen zu haben. Zugleich aber ist strenge Disziplin gefordert: Freudig erfüllt vom Gipfelerfolg, darf man die Sorge um die eigene Sicherheit, um einen unfallfreien Abstieg, nicht außer Acht lassen.

Und bei der Ankunft bewahrt man den Gipfel und das, was man erfahren durfte, in Herz und Geist. War die Tour groß, hat sie weite Ausblicke gewährt und nicht weniger tiefe Einblicke provoziert, dann wird man sie so schnell nicht vergessen; so manche Tour bleibt lebenslang im Gedächtnis. Sie wird zu einem Teil des Bergsteigers selbst; und viel mehr als Spaß und Vergnügen im Tal bildet sie die Identität des Bergsteigers und Menschen. Denn auch im Alltag wird er die nachdrücklichen Erfahrungen behalten. Er integriert seine Frei-Tage in sein alltägliches Leben, sie tragen bei zur Persönlichkeitsbildung. Wer einen Gipfel erklimmen und sicher ins Tal zurückgelangen kann, der ist zuversichtlich, dass er auch anderes gut bewältigen wird.

Wohlbehalten nach schwieriger Tour im Tal wieder angekommen zu sein, erzeugt unwillkürlich ein großes Gefühl: Dankbarkeit. Dankbarkeit wird am innigsten gegen das Ende der Tour empfunden, Dankbarkeit darüber, dass man wohlbehalten zurückkehren durfte und dass man auf hohem Berge etwas Hohes, vielleicht sogar das Höchste erfahren durfte.

Prof. Dr. Günter Seubold


Artikel aus der aktuellen Ausgabe der PASTORALE

Titelbild: Christian Schmitt
In: Pfarrbriefservice.de

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