Es ist Freitag. Freitags hatte ich Spanisch-Unterricht. Letzte Stunde, etwa 15:30 Uhr. Die erste Frage unserer Lehrerin lautete immer: „¿Qué tal?“, also „Wie geht’s?“ Die Antwort: „Mas o menos.“ sprich: „Mehr oder weniger“ oder „Naja, so mittel.“ war eine kluge Entscheidung, denn damit war die Frage zu Ende. Bei „gut“ oder „schlecht“ kam immer die Nachfrage „Warum gut?“ oder „Warum schlecht?“ Nett gemeint, doch welcher Schüler oder welche Schülerin will diesen unbequemen Weg tatsächlich gehen?
Ganz ähnlich ist es, wenn ich einen Kaffee bestelle. Kommt die Frage: „Welche Größe darf es denn sein?“, dann wähle ich nahezu immer „mittel“. Alles andere wäre doch auch vermessen, gleichsam gierig und abgehoben! Es ist ein Ausweichen: Die Entscheidung mittel bedeutet weder groß, noch klein. Es ist ein Nicht-Entscheiden. Ist mittel demnach die Entscheidung, keine Entscheidung zu treffen?
Es kann nur einen praxistauglichen Test geben: Schauen wir nach, was Google sagt. Suchen wir nach Synonymen für mittelmäßig. Da finden wir: durchschnittlich, gewöhnlich, alltäglich, mäßig, erträglich, leidlich, passabel, mit Mühe und Not, nicht überwältigend, schlecht und recht – und zuletzt das wohl vernichtende Urteil – ganz nett. Wieso wird diese Liste beim Lesen eigentlich fortlaufend schlimmer? Vielleicht, weil mittelmäßig tatsächlich ein eher negatives Urteil bedeutet. Denn sein wir mal ehrlich, wollen Sie mittelmäßig als Beurteilung in Ihrem Arbeitszeugnis zu stehen haben? Würden Sie den Staubsauger mit Qualitäts-Urteil mittelmäßig kaufen? Oder erinnern wir uns an einen beliebigen Sportkarrieren-Hollywoodfilm. Gibt es da nicht immer diese ikonische Szene, des „Du kannst Dich jetzt entscheiden, hart zu trainieren und der Beste zu werden oder für immer Mittelmaß bleiben.“? Wer könnte bei solchen Vorlagen das Mittelmaß als erstrebenswertes Lebensziel ausmachen?
Nun, vielleicht jemand, der die Einseitigkeit dieser Beispiele durchschaut. Sie haben einen gemeinsamen Kontext, denn es geht um Wettbewerb. Im Wettkampf ist das Mittelmaß, auch wenn für Union diese Region der Tabelle ein großer Erfolg ist, nicht das höchste aller Ziele. Ein Glück, ist nicht unser ganzes Leben ein Wettbewerb. So gibt es natürlich auch Synonyme mit anderer Wirkung. Sie sind nur nicht die ersten, die sich in der Liste finden lassen oder die ersten, die mir selbst in den Kopf kamen: ausgeglichen, ausgewogen, angemessen, anständig, dezent, anerkannt, bewährt, erprobt, vertretbar. Das gesunde Mittelmaß ist ein Ausdruck von Umsichtigkeit, einem Abwägen, von Geduld und Weitsichtigkeit.
Nach diesem Verständnis findet sich das Maß plötzlich in den platonischen Kardinaltugenden wieder. Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß – diese vier Tugenden finden sich seit der Antike in Philosophie und Theologie wieder, angefangen bei Platon und Aristoteles, bis hin zu Josef Pieper. Keineswegs ist Maß dabei eine verstaubte Idee.
- Ein maßvoller Mensch prüft Argumente, mit Vernunft und Geduld. So bedeutet Maß, die Wahl des richtigen Mittelweges.
- Ein maßvoller Mensch fällt nicht herein, auf das plakative Vereinfachen von Populismus oder gegeneinander Ausspielen von Vorurteilen, sprich undifferenzierte Stereotype. Denn Maß bedeutet, zu differenzieren, statt eilig zu vereinfachen.
- Ein maßvoller Mensch besitzt den Weitblick um die Langfristigkeit des Lebens. Im Grunde bedeutet Maß somit Nachhaltigkeit, eine durchaus aktuelle Idee.
Besonnenheit, Bescheidenheit, Geduld, Weitsicht – Was für starke Worte! Was für starke Synonyme! Maß mag ein Wort sein, das nicht ganz zeitgemäß klingt. Doch in diesem, hier ausführlich ausgebreiteten Sinne, halte ich persönlich das Maß für geradezu visionär.
Vielleicht sind meine Mittel mäßig. Sie sind sicherlich nicht die besten. Doch bedeutet mäßig eben nicht automatisch schlecht, sondern vielleicht auch taktvoll, angemessen und gut abgewogen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und mir Mut zur Mittelmäßigkeit!
Ihr Stephan Napieralski, Gemeindereferent