Wohin den Blick richten?
Die Natur des Menschen, seine Menschlichkeit macht sich nicht „von Natur“, nicht von selbst. Menschen müssen, wie wir im Deutschen sagen, ihr „Leben führen“. Sie müssen, um Menschen zu sein, ihrem Leben eine Gestalt geben. Das gelingt nur, wenn das Leben einen Inhalt hat, der über die bloße Selbsterhaltung und die Reproduktion der Gattung hinausgeht. Einen Inhalt, der den Menschen übersteigt. Der Mensch ist das Wesen der Selbsttranszendenz. Er braucht etwas, wofür es sich zu leben lohnt. Das cor curvatum in se ipsum, von dem der heilige Augustinus spricht, das Herz, dem es nur noch um sich selbst geht, ist nicht mehr im eigentlichen Sinne menschlich. Was wir Kultur nennen, ist die Prägung des Lebens einer Gemeinschaft durch solche Inhalte, die das Leben strukturieren und ihm einen Sinn geben.
All diese Inhalte sind letzten Endes relativ. Den einzig adäquaten Gegenstand menschlicher Selbsttranszendenz nennen wir Gott. Friedrich Nietzsche hielt die christliche Idee der Gottesliebe für die höchste Idee der bisherigen Menschheit, weil sie den Menschen lehrte, sich auf etwas zu richten, das größer ist als der Mensch und weil so der Mensch über sich selbst hinauszuwachsen lernte. Nur dadurch wird der Mensch im eigentlichen Sinne menschlich. […] Die neuzeitliche Utopie ersetzte die Erwartung unsterblichen göttlichen Lebens für jeden, der sich danach ausstreckt, durch die Perspektive verbesserter irdischer Lebensbedingungen später lebender Menschen. Dazu bedurfte es der Verwandlung der Gesellschaft in eine zweckrationale Organisation, die diese Verbesserungen herbeiführen sollte. Das gegenwärtige Leben hat, auch wenn es schön und richtig gelebt wird, nicht mehr einen Ewigkeitssinn in sich selbst. […]
Ein angesehener amerikanischer Philosoph der Gegenwart, Richard Rorty, hat unlängst die Antiutopie entworfen. Es handelt sich um das Wunschbild einer liberalen Gesellschaft, in der alle kognitiven, ethischen und religiösen Absolutheitsansprüche verschwunden sind und in der „nichts für wirklicher gehalten wird als Lust und Schmerz“. Alles, worum es dem Menschen geht, alles, womit es ihm ernst ist, ist Illusion. […] Im übrigen wollen wir uns wohlfühlen, das ist alles.
An die Stelle des heroischen Nihilismus tritt das, was ich den „banalen Nihilismus“ nennen möchte.
Nietzsche hat diesen banalen Nihilismus bereits vor 100 Jahren hellsichtig im voraus charakterisiert. Er sprach in diesem Zusammenhang von dem „letzten Menschen“. „Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?“ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht… ‚Wir haben das Glück erfunden‘, sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbarn und reibt sich an ihm. Denn man braucht Wärme… Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt zu einem angenehmen Sterben. Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, daß die Unterhaltung nicht angreife. Man wird nicht mehr arm und reich: beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich. Kein Hirt und keine Herde. Jeder will das gleiche. Jeder ist gleich. Wer anders fühlt, geht freiwillig ins Irrenhaus… Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. ‚Wir haben das Glück erfunden“, sagen die letzten Menschen und blinzeln. […]
Diese Worte sind einer Rede des Philosophen Robert Spaemann (+2018) entnommen, der sie unter dem Titel „Die europäische Kultur und der banale Nihilismus oder: Die Einheit von Mythos, Kult und Ethos“ im November 1991 in Rom vor dem Praesynodalen Symposium über Christentum und Kultur gehalten hat. Den philosophisch-theologischen und auch gesellschaftlichen Ansichten dieses Denkers muss man geteilt gegenüberstehen. Die herausgegriffenen Teile der Analyse der (damaligen) Gesellschaft können uns aber gerade angesichts der jüngsten Entwicklungen um die Coronapandemie zum Nachdenken bringen: Wonach richte ich mein Leben aus? Welcher Leitstern steht über allem? Was passiert, wenn mir plötzlich einiges von dem genommen wird, womit ich mich identifiziert oder beschäftigt habe, was mir Spaß machte? Wie sehr ist man auf sich selbst zurückgeworfen, wenn Kino-, Café- und Restaurantbesuche, sämtliche Kunst- und Kulturangebote, alle Sportvereine und sogar die Gottesdienste ausgesetzt werden müssen; wenn plötzlich die individuelle Handlungs- und Bewegungsfreiheit eingeschränkt sind? Wie viel greifbarer wird plötzlich Einsamkeit? Was bedeutet Bedrohung in meiner (finanziellen) Existenz?
Dass Angst und Druck bei einigen Menschen groß sein müssen zeigt sich, wenn man hört und auf Videoaufnahmen bestätigt sieht, wie rücksichtslos sich Mancher für den „Katastrophenfall“ in Super- und Drogeriemärkten eindeckt. Gleichzeitig bringt die gegenwärtige Krise viel Schönes zum Vorschein: Kontaktaufnahme und Hilfsbereitschaft in Mehrfamilienhäusern, wo Jüngere für ihre älteren Nachbarn einkaufen gehen. Menschen, die aufstehen, füreinander da sind und sich für die Gesellschaft einsetzen. Es ist eine Zeit der Konfrontation mit sich selbst, aber auch eine Zeit der Reflexion, die wieder ins Bewusstsein rufen kann, auf was für einem Fundament das eigene Leben steht und auf welchen Leitstern es blickt. Vielleicht sehen wir diese – außergewöhnliche – Fastenzeit mit all ihren unvorhergesehenen Entbehrungen als Chance, die eigenen Fundamente zu überprüfen und gegebenenfalls neu zu bauen. Vielleicht können wir gerade jetzt dazu beitragen, Güte, Hilfe und Liebe in unserem Umfeld aufleuchten zu lassen und das Gute und die Hoffnung zu verstärken.