„Ich bin die Wahrheit“, sagt uns Christus im Johannesevangelium. Weiter im Johannesevangelium hören wir heute, dass wir, also die von Christus zur Nachfolge gerufenen, den Geist der Wahrheit kennen. Im Gegensatz zum Rest der Welt! Es wurde von der Kirche auch über Jahrhunderte so gelehrt, dass sie im alleinigen Besitz der Wahrheit ist. Ich sehe in diesen Worten Jesu eher die Warnung sich im Besitz der ganzen Wahrheit zu wähnen. Es mag auf den ersten Blick durchaus verlockend klingen, die ganze Wahrheit zu kennen. Vor dem Hintergrund wäre es ein bedauerlicher Verlust, einsehen zu müssen, dass wir die Wahrheit eben nicht ganz begreifen können. Es ist für mich aber auch eine gewisse Erleichterung, nicht die ganze Wahrheit zu kennen, denn dann muss ich sie auch nicht kennen. Wenn ich mit dem Anspruch auftrete, die ganze Wahrheit zu kennen, kann daran jedes Gespräch scheitern. Überlegen Sie mal, wie Sie Gesprächspartner finden, die mit diesem Anspruch in das Gespräch gehen. Wir müssen auch erleben, dass dieser Anspruch nicht nur unangenehm, sondern irrsinnig und darin dann auch gefährlich ist. Wenn ich die ganze Wahrheit kenne, muss ich alles erklären können. Wir hören gerade in diesen Tagen sehr viel von sog. Verschwörungstheorien. Deren psychologischer Kern ist oft der Wunsch, alles erklären zu können. Gerade in Zeiten wie diesen, in denen etwas das unbekannt ist, weil wir darüber noch nicht viel wissen und das in seinen Ausmaßen wahrscheinlich auch zu groß ist, jemals in seiner Gesamtheit überblickt werden zu können, unser Leben bestimmt, gelingt das nur, wenn ich es vereinfache und auf singuläre Ursachen zurückführe. Dies findet in der eigenen Logik einer oftmals absurden Theorie seine Fortsetzung in der Benennung von Sündenböcken. So ist es vielleicht gerade an uns Christen, davor zu warnen mit dem Anspruch der vollständigen Wahrheit hausieren zu gehen, wenn wir an die Worte Jesu denken. „Ich bin die Wahrheit“ spricht er. Wer also angeblich die volle Wahrheit kennt, behauptet den der sowohl Gott als auch Mensch und der gestorben ist um den Tod zu besiegen, vollständig zu kennen also begriffen zu haben. Spätestens hier sollten wir Christen merken, dass hier etwas nicht stimmen kann. Nun heißt es aber auch, dass wir den Geist der Wahrheit, also gewissermaßen ihr Wesen kennen. Kann dies für uns bedeuten, dass den Geist, also das Wesen der Wahrheit zu kennen, bedeutet zu wissen, dass wir die ganze Wahrheit hier auf Erden gar nicht kennen können, weil es das Wesen der Wahrheit ist, alles menschliche Verstehen zu übersteigen, weil eben Christus und damit Gott selbst die Wahrheit ist?
Ihr Daniel Tinten, Priesteramtskandidat,
derzeit für ein Jahr zum Pastoralpraktikum in der Pfarrei St. Josef Treptow-Köpenick