Ich gebe es gerne zu: Selten achte ich bewusst und genau auf die Worte des Tagesgebetes. Zwar spannt sich mein Körper etwas an, die Hände werden fromm gefaltet und heben sich vielleicht sogar etwas näher zum Herzen. Oftmals höre ich die Worte auch aufmerksam. Merken konnte ich sie mir bisher allerdings äußerst selten. Dennoch staune ich, über den heutigen Text, der in allen Gottesdiensten zu Beginn gebetet wird.
Gott, unser Schöpfer.
Die Gegensätze in der Welt klagen uns an:
Reichtum und Not,
Hunger und Überfluss,
Sorglosigkeit und Leid stehen gegeneinander.Hilf du uns allen,
dass wir aufhören, die Gegensätze zu verschärfen,
und anfangen, einander Brüder und Schwestern zu sein.
Darum bitten wir durch Jesus Christus.(Messbuch 313, 23)
Mein Eindruck ist, Gegensätze werden immer dominanter. Zumindest werden sie immer deutlicher betont und hervorgehoben. Damit komplizierte Probleme überschaubar bleiben, werden einfach Schubladen eingerichtet. Derer gibt es, damit es überschaubar bleibt, nur zwei. „Der Markt regelt das. Bloß nicht eingreifen!“ Wer hingegen zügellosen Konsum und Kapitalismus hinterfragt, will Sozialismus. Entweder, oder. Ganz, oder gar nicht. Es geht nicht nur um ein Tempolimit, sondern um autofreie Städte. Dagegen werden schwere Geschütze aufgefahren: tonnenschwere Karossen, mit mehr Pferdestärken als es Martinsumzüge weltweit gibt. Ganz vorschriftsgemäß der Hufeisentheorie, kämpfen in den politischen Talks „linksgrünversiffte Gutmenschen“ und „Reichsbürger“. Autofahrer und Radfahrer waren sich noch nie ganz geheuer und eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Schalker dem BVB drei Punkte gönnt.
Wie ein Hilferuf, klingt da dieses Tagesgebet. Wie ein Plädoyer für eine Tugend, die seit der Antike Menschen zu Fasten, Selbstreflexion und Versöhnung inspiriert: Mäßigung.
Das rechte Maß behält die Langfristigkeit des Lebens im Blick. Dies führt zu Nachhaltigkeit, gegenüber einer verschwenderischen Zügellosigkeit.
Ein gesunder Mittelweg, lässt Kompromisse zu, statt Fronten zu verhärten. So geschieht, ganz evangeliums-konform, Versöhnung.
Die eigenen Bedürfnisse zu reflektieren hilft, Herrschaft über das Selbst zu gewinnen. Es ist ein Unterschied, Lust, Heißhunger und Vergnügen aus freien Stücken nachzugehen, statt ihnen machtlos zu erliegen. Schließlich wird selbst das Angenehmste unangenehm, wenn das rechte Maß überschritten wird. Fragen Sie einen Raucher oder Menschen nach einem All-You-Can-Eat-Buffet.
Wenn wir dieses Gebet heute im Gottesdienst mitbeten oder es zu Hause sprechen, so beten wir gemeinsam, um Mäßigung, um Kompromissbereitschaft, um Weitsicht und Versöhnung.
Ihr Stephan Napieralski,
Gemeindereferent
Bild: Peter Weidemann
In: Pfarrbriefservice.de